Die dreizehnte Fee
… Trauer erfüllte
heute an diesem wunderbaren Sommertag die Uralte, die Weise. Sie zog
ihre Hand durch das klare Wasser des steinernen Beckens und die
mystischen Bilder, die sie in die Zeiten sehen ließen, verschwanden.
Der König des
Landes missachtete die uralte Ordnung - wieder und wieder. Zwölf der
Schwestern gebot er zu sich, aus Anlass des Tauffestes seiner
neugeborenen Tochter. Prächtig gekleidete Diener schickte er aus,
junge Burschen, die sich ihrer Stellung am Hofe sicher, die
Einladungen an die Feen hochmütig überreichten. Die jungen Pagen
kannten keine Ehrfurcht mehr vor den Weisen Weiber, die überall im
Lande lebten und wirkten. Der König lud nur ihrer Zwölf in seine
Burg. An ihrem Haus, dem der Dreizehnten, ritten die Boten vorbei.
Einst kam die Mutter
der Königin selbst zu ihr und ihren Schwestern, um sie zum Fest zu
bitten. In der Nacht der Frauen versammelten sich alle. Und im Schein
des vollen Mondes empfahl die junge Mutter ihre neugeborene Tochter
dem Kreis der Dreizehn und den Ahninnen, bat um Schutz und Beistand
für die künftige Königin. Viel zu früh starb sie dann, die alte
Königin. Und viel zu früh vermählte sich deren Tochter. Jetzt ward
diese nach einer langen Wartezeit selbst Mutter und das Königspaar
wusste sich vor Glück nicht zu lassen, hieß es im ganzen Land.
Die dreizehnte Fee, die Alte, schritt wehmütig durch die
Räume ihres Palastes. Von außen ward dieser eine unscheinbare
Hütte, doch trat man durch die Türe, taten sich im Inneren weite
Säle auf, geheimnisvolle Gemächer und Türme, von deren Warte sie
Zukünftiges und Vergangenes sah. Hier störte nichts die Ordnung des
immer währenden Seins.
Nach endlosen Stunden saß sie
immer noch auf der Bank des Altans. Zum ersten Mal in ihrem langen
Leben war der Tag gekommen, an dem sie ihren sonst so segensreichen
Ahnungen fluchen wollte. Ihr Vermögen, das sie unerbittlich sehen
ließ, was anderen verborgen blieb, schien ihr heute eine grausame
Last. Sie sah und erkannte, wohin der Menschen Entscheidungen
führten. Es waren Entscheidungen, die nicht mehr vom alten Prinzip
getragen wurden. Keiner suchte mehr ihren Rat.
Sie
schloss ihre Augen, leerte ihren Geist, versank in den Weiten der
ewigen Welten. Doch ein bisher nicht bekannter Schmerz zog sie immer
wieder zurück, missgönnte ihr heute die Ruhe, welche sonst ihre
Kräfte wachsen ließ. Und so beschloss sie, sich auf den Weg zu
machen. Mit ihrer Anwesenheit wollte sie dem König zeigen, was er
bereit war aufs Spiel zu setzen. Und mit eigenen Augen würde sie
sich überzeugen, dass die Königin nicht mehr die Geschicke des
Landes lenkte. Nein, sie durfte sich nicht ausschließen lassen, zu
wichtig waren ihre Visionen für die Menschen. Die dreizehnte der
Feen begab sich auf den Weg zum königlichen Schloss.
Es
war ein leichtes für eine unscheinbare alte Frau die Königspfalz zu
betreten. Niemand nahm sie gewahr. Das wunderbare Gewand der Feen
hielt sie vor den Augen der geschäftigen und froh gestimmten
Menschen verborgen. Sie durchschritt die festlich geschmückten Räume
der Burg. Niemand beachtete sie in all der Rührigkeit. Sie
schlängelte sich an Mägden vorbei, die Platten und Schüsseln mit
üppigen Speisen aus der Küche trugen und diese den fein gewandeten
Diener zum Servieren übergaben. In den Gängen standen bewaffnete
Wachen aufgereiht und an jeder Tür fragte ein Lakai nach dem Begehr.
Das Leben in Vertrauen und Ungebundenheit, die Zeit der kundigen und
klugen Frauen ging zu Ende, nie hatte die dreizehnte Fee es
deutlicher gesehen, als in diesem Augenblick, da sie den Festsaal des
Palas betrat.
Zwölf Schwestern
umstanden die Wiege des Kindes, während die geladenen Gäste
schwatzten und tafelten. Und trotz der zur Schau getragenen,
überschäumenden Ausgelassenheit, lag auch ein dunkler Schatten auf
der anwesenden Festgesellschaft. All die feiernden Herrschaften
jubelten dem Königspaar zu und suchten doch zu verbergen, dass in
der Freude über das Kind, auch die Enttäuschung mitschwang, dass
kein Sohn das Licht der Welt erblickt hatte. Wohlgesetzte Reden
schmeichelten dem Herrscher und enthielten manch versteckten Tadel
für die Königin, welche dem Gatten nicht den erwarteten Erbprinzen
geschenkt hatte.
Der Zorn über die Ungehörigkeit und
die Unvernunft der erlauchten Gesellschaft stieg erneut in der Alten
auf. Und deutlich spürte sie, auch ihre Schwestern fühlten nur zu
gut den neuen, den unheilvollen Geist. Die meisten von ihnen trugen
einen dünnen Schleier vor ihrem Gesicht, so dass die Anwesenden ihre
Besorgnis nicht aus ihren Mienen lesen konnten.
Die
Königin, noch erschöpft von den Anstrengungen der letzten Tage,
hatte nur Augen für ihre langersehnte kleine Tochter. Selbst die
Weisen Frauen, die Feen des Landes, nahm sie kaum wahr. Doch nun
erschrak sie, als sie der Dreizehnten angesichtig wurde. Ängstlich
blickte sie hin, zu ihrem Gemahl, der zwischen Grafen und Herzögen
und deren Gattinnen an der Tafel saß.
Die Alte, die
Feenmutter, ließ den Mantel von den Schultern gleiten und stand in
ihrer Gewaltigkeit mitten im Saal. Erschrocken verstummten bei ihrem
Erscheinen die Gespräche und das Zuprosten. Sie sah sich lange und
bedachtsam um. Dann trat sie an die Wiege der kleinen Prinzessin. Mit
großen Augen lachte das Kind sie an und die Fee wurde schier
überwältigt von den Offenbarungen, welche vor ihr auftauchten.
Soll die kleine
Königstochter in all den Schrecken, den sie so überdeutlich vor
sich sah, hineinwachsen? Das Grauen der gewissen Zukunft erleben.
Wäre es nicht besser, sie wäre tot? Ihr Geburtsrecht würde sie
verlieren, sobald der Bruder geboren würde. Der Vater wird
verbieten, sie zu den Weisen Frauen zu schicken, statt dessen wird er
sie mit dem Fürsten des Nachbarreichs verheiraten, um den Frieden zu
sichern. Fern vom Haus ihrer Ahnin würde sie dort unglücklich eines
frühen Todes sterben. Der König wird den Priestern der neuen
Religion in allem freie Hand lassen. Sie werden die Zusammenkünfte
der Frauen in den Spinnstuben verbieten und das Tun der Hebammen
beargwöhnen.
Sie sah eine Zeit
des Todes und der Vernichtung.
Die weise Alte richtete
sich hoch auf und ihr Spruch ließ die Anwesenden vor Grauen
erstarren. Ihren unnachgiebigen Blick auf den König gerichtet,
verkündete sie, was sie sah und mahnte zur Einsicht. Dann verließ
sie den Saal.
Auch der Spruch der Zwölften, die nach ihr
an die Wiege trat, wird die künftigen Geschehnisse nicht aufhalten
oder die Morgen abändern, nur hinauszögern. Das war eine bittere
Gewissheit. Mag es diese Königstochter noch nicht treffen, so wird
sich der Spruch vielleicht an ihrem Kindeskind erfüllen. Einhundert
Jahre Schlaf sei ihnen vergönnt! Eine kleine Spanne Zeit. Nur ein
Zyklus, der sich wiederholt. Die Dauer in der sich Erinnerungen
allmählich zu Mären und Sagen wandeln - geläuterte Weisheiten,
welche die Großmütter den kleinen Töchtern erzählten, damit diese
daraus lernen.
Die dreizehnte Fee, die Uralte, wanderte
zwischen reifen Feldern und grünen Wiesen heimwärts in die
Einsamkeit des Waldes. Sie dachte an ihre Schwestern. Sollen sie
dieses Mal noch, wie zu allen Zeiten, die kleine Prinzessin mit ihren
Gaben segnen. Eines Tages wachsen Töchter heran , die von all dem
nichts mehr erfahren und hunderte Jahre werden noch ins Land gehen,
bis die Märchen dereinst der Schlüssel zu einer neuen Zeit der
Frauen werden.
Ab und zu hielt sie inne auf ihrem Weg und
wenn sie die Augen schloss, sah sie dunkle Kerker und Ketten. Sie sah
riesige Scheiterhaufen lodern und hörte die Schreie der verfolgten
und gemarterten Frauen.
Und die dreizehnte der Feen
wusste nicht, wie sie all das allein aufhalten könnte.
"Die dreizehnte Fee" © Märchenerzählung von Stephanie Ursula Gogolin, Juni 2010