29. Oktober 2013

Erinnerungen

Aus gegebenen Anlass eine fast vergessene Erzählung aus dem Sammelbändchen: Geschichten aus dem Treppenhaus

Können Elfen traurig sein? 


Hanna und Paula laufen treppauf treppab. Sie suchen ihre Hausschuhe und die zurecht gelegten Spielsachen zusammen. Im Haus sieht es heute recht merkwürdig aus. Die Regale sind leer, die Schranktüren stehen offen und Hanna stolpert eben über einen der vielen Kartons. Die Familie packt. Mama wird demnächst in einer anderen Stadt singen und nun müssen alle umziehen, Mama, Hanna, Paula und Oma. In all dem Durcheinander achtet kaum jemand auf Spinni. Die kleine Hauselfe sitzt auf der Treppe, baumelt mit den Füßen. Sie ist traurig. Die Kinder gehen weg.
Hanna hüpft mit Schäfchen im Arm auf dem Treppenabsatz herum: „Kommt der Papa bald?“
Während morgen die Möbel verladen werden, sind die Kinder beim Papa. Erst wenn die neue Wohnung fertig eingeräumt ist, bringt Papa die Zwillinge wieder zur Mama und Oma. Papa wohnt in einer anderen Stadt.
Mama sagt: „Bestimmt steht er wieder auf der Autobahn...“ - „Im Staub“ ergänzt Paula. Alle lachen. Dann wird eifrig weiter gepackt. Und da alle schrecklich beschäftigt sind, hört niemand, wie Spinni tief seufzt. Seit über einhundert Jahren gibt es dieses Haus und zum ersten Mal wohnen so nette Kinder hier. Viel zu kurz, wie die kleine Treppenhauselfe findet. Es wird ab morgen bestimmt sehr einsam werden.
Kein abendlicher Plausch mehr, mit Schäfchen und Teddy in der hinteren Ecke der Kinderbetten. Kein Kaffeetrinken in der Puppenstube. Kein Kramen mehr in Paulas vielen Schatzkästchen. Immer wenn Oma sich über Paulas Unordnung wunderte, schämte sie sich ein bisschen - aber Paulas kleine Sammlungen sind zu schön. Spinni seufzt tief. Es wird kein heimliches Malen mit Hannas Stiften und Farbtöpfen geben. Kein Naschen in der Küche beim Kekse backen und kein Spaß, wenn der bunte Ball die Treppe herunter springt. Spinni seufzt noch lauter, aber niemand hört sie.
Mama schickt die Kinder nach unten zum Schuhe anziehen, gleich werden sie abgeholt. Bis morgen früh, wenn der Möbelwagen kommt, muss alles fertig sein. Bis dahin ist noch viel zu tun. Die Zimmer ganz leer räumen, die Umzugskartons beschriften, die Blumentöpfe in das Auto von Mama laden, alles einmal ausfegen.
Mit mehren kleinen Teddys und einem Stoffhund unter dem Arm tappt Paula vorsichtig die Treppe herunter, selbst auf den Treppenabsätzen stehen Kartons, die Puppenwagen und Zimmerpflanzen. Johanna räumt noch ihr Malzeug zusammen, sie hat noch einmal das Kinderzimmer gezeichnet, damit sie nicht vergisst, wo alles gestanden hat. In der neuen Wohnung wird alles ganz anders aussehen: ”Ich komme gleich...”, ruft sie die Treppe hinunter.
Paula zieht schon ihre Schuhe an, was sehr schwierig ist, wenn man die Teddys nicht loslassen möchte. Da, jetzt hört sie ganz deutlich ein kleines Seufzen. Hinter einem der Kartons mit den Kinderbüchern luken die silbrigen Strubbelhaare von Spinni hervor. Paula schiebt den Kasten zur Seite und sieht die Hauselfe mit hängendem Köpfchen und schlaff herab baumelnden Schuhspitzen auf der Treppenstufe hocken. Ganz matt und grau sieht heute ihr Kleidchen aus.
„Traurig?“, fragt Paula. Ein noch tieferer Seufzer war die Antwort. Paula versteht. „Komm doch mit! Steig morgen einfach in den Möbelwagen“, flüstert Paula ihr zu.
„Das geht nicht, ich bin eine Hauselfe und kann mein Haus nicht verlassen.“
Schade! Jetzt ist Paula auch ganz traurig. Das ist ein schwerer Abschied. Bestimmt sehen sie sich nie wieder. Die sonst so fröhliche Spinni wippt nur traurig mit den Füßen.
„Ihr müsstet ein Stück vom Haus mitnehmen, dann könnte ich euch begleiten. Ratz, der Kellergeist hat es mir erzählt.“
„Wer ist Ratz?“ Hanna sitzt plötzlich auch neben den beiden auf der Treppe. „Den haben wir noch gar nie nich getroffen!“
„Ach, der wohnt schon lange nicht mehr hier. Bestimmt ist er weg gegangen, als damals die Handwerker die Heizungsrohre ausgewechselt haben.“ So nieder geschlagen haben die Kinder Spinni noch nie erlebt.
„Können wir nicht auch ein Rohr mitnehmen?” fragt Paula.
„Das geht doch nicht!“ Hanna schüttelt den Kopf und überlegt, was gehört zum Haus und ließe sich trotzdem einpacken.
„Oh, nein!“, schreit Mama plötzlich und dann poltert etwas laut die Treppe hinunter. Jetzt klirrt es auch noch. Oma kommt herbei gestürzt: „Was ist passiert?“
Mama ruft von oben: „Ich bin mit der Kiste an den lockeren Knopf vom Treppengeländer gestoßen und das blöde Ding ist in die offene Geschirrkiste gefallen, jetzt ist eine Tasse kaputt.“
Und dann schimpft sie in der oberen Etage noch ein bisschen vor sich hin. Oma winkt ab, bei einem Umzug geht immer etwas entzwei.
Die Kinder rennen die Stufen wieder nach oben. Natürlich wollen sie wissen welche Tasse entzwei ist. Hoffentlich nicht die mit den lila Schnecken, die mag Paula am liebsten.
„Schneidet euch nicht.“, mahnt die Oma von unten. Paula nimmt den geschnitzten Knauf aus der Kiste, einer von Mamas Kaffeebechern liegt in Scherben.
„Du blödes Ding!“, sagt Paula zu der Holzkugel.
„Du gutes Ding!“, sagt Spinni mit Betonung und sieht die Kinder an. Hanna nimmt Paula das abgefallene Teil des Treppengeländers schnell aus der Hand. Sie wühlt zwischen dem verpackten Geschirr und schon ist der Holzknauf ganz weit unten im Karton verschwunden. Noch bevor sich Paula darüber aufregen kann, dass Hanna ihr wieder einmal etwas aus der Hand gerissen hat, klingelt es. 

„Der Papa kommt.“ Die Kinder stürmen die Treppe hinunter. Sie können nicht schnell genug die Haustür öffnen. „Na, meine Mäuse, seid ihr fertig?“ fragt der Papa.
Spinni, die Hauselfe, sitzt zufrieden lächelnd auf dem Karton, baumelt mit den Füßen und ihre Schuhspitzen sind lustig nach oben gebogen. Durch das Dachfenster scheint jetzt die Sonne herein und im Sonnenschein schimmert ihr Kleidchen Veilchenblau.



© Stephanie Ursula Gogolin, Bonn 2003