22. Juni 2010

Ein Märchen

Die Sonne schien ihr ins Gesicht, als sie erwachte.
Was hatte sie geweckt? Donnergrollen - Vogelsang - ein Kuss? Nein! Nichts von alldem - es war einfach nur die Zeit.
Es gibt für alles eine Zeit, auch dafür zu erwachen.

Sie erhob sich, klopfte den Staub von ihrem verblichenen, einst rosenfarbenen Kleid und fuhr sich mit den Fingern durch das verfitzte Haar. Die Morgensonne schien zu den schmalen, hohen Rundbogenfenstern herein und tauchte die vermodernde Einrichtung des Turmzimmers in goldiges Licht.
Die verwunschene Prinzessin trat an eines der Fenster.
Es war sehr früh. Das verschlafene Land, noch benetzt vom Morgentau, lag soweit das Auge reichte im üppigsten Sommer vor ihr. Aber ihre Augen reichten nicht mehr sehr weit. 

Sie zog einen Dorn aus ihrem Fleisch, schritt achtlos über welkende Rosen hinweg und verließ das Gemach. Das rostige Schloss ließ sich schwer öffnen. Die massive Tür des Turmzimmers hatte die schlafende Königstochter in all den Jahren gut beschützt. Jetzt war sie entbehrlich, sollte das Tor zu ihrer Freiheit werden. Erwartungsvoll stieg Dornröschen die Wendeltreppe des Turms herab.
Die Stufen knarrten unter ihren leichten Schritten und die Schleppe des Kleides hinterließ im Staub eine helle Spur. Nun, da sie erwacht war, gab es auch keinen Widerstand mehr. Das schmiedeeiserne Gitter hinter der Tür des Turmes ließ sich leicht aufstoßen und die Dornenhecke öffnete ihr von selbst einen Durchgang. Einen Rosenzweig zur Seite biegend, trat die Prinzessin in den milden Morgen hinaus.

Die Vögel sangen und es summte und brummt um sie her. Doch weit und breit konnte sie keine Menschenseele entdecken. Zwischen Ginster und Brennnesseln stieß ihr Fuß gegen ein rostiges Schwert. Es mochte einem längst vergessenen Prinzen gehören oder auch nur einer davon gelaufenen Wache. Das einst prächtige, väterliche Schloss war zur Ruine zerfallen, überwuchert von Unkraut und wilden Rosen.

Dornröschen verharrte am Fuß des Bergfrieds und sah sich um. 

Wo war er, der Retter? Wo blieb er, der Verheißene? Was wurde aus dem erträumten Glück? Ein sanfter Wind zauste ihr ergrautes Haar.
In den nächsten Jahren zog selten jemand auf der Straße an der Schlossruine vorbei. Noch seltener verweilte ein Wanderer in der kleinen Hütte, die sich an die starke Mauer des Turmes schmiegte.

Doch jedem, der auf dem Weg in die nächste Stadt, bei der alten Frau mit dem jungen Herzen rastete und sich ausruhte, dem erzählte sie die Geschichte vom schlafenden Dornröschen. Von einem versunkenen und verwunschen Königreich und von dem Prinzen, der das schlafende Dornröschen wachküsste. Ein Märchen voll des Zaubers der Liebe und der Sehnsucht nach ewiger Glücksseligkeit.

Aber eben nur ein Märchen... 



Märchenvariation von Stephanie Ursula Gogolin, September 2005

4 Kommentare:

Sica hat gesagt…

Gratuliere, Stephanie. Gerade habe ich gesehen, dass du einen Zweitblog aufgemacht hast. Das finde ich klasse, und die Geschichte von der ergrauten Königstochter gefällt mir...

Ich werde dich gleich verlinken.

LG

Grey Owl Calluna hat gesagt…

Liebe Stephanie!
Die ewige Glückseeligkeit gibt es nicht, zumindest nicht hier auf dieser Erde.
Im Huna-Glauben wird das eigentlich so dargestellt, dass sich unsere Lichtkörper, der nur die Glückseeligkeit kennt, einen Körper sucht, um gerade das Gegenteil (damit) zu erfahren, damit er versteht, was die Glückseeligkeit wirklich ist.
Wie könnte er das Eine verstehen, wenn er das Andere nicht kennt?

Finde ich auch recht plausibel.


....und en tollen Prinzen, Erlöser, oder wie auch immer,....von was soll er eigentlich erlösen?, gibt es eh nicht. Welche Frau das noch nicht begriffen hat, die ist....
Spätestens nach dem zweiten, dritten Mann merkt man das doch von selber. Keiner ist besser als der Andere. Jeder hat seine Stärken und Schwächen, auch wir Frauen. Perfekte Menschen gibt es nicht.
Das ist wohl auch etwas, was wir hier lernen sollen,....miteinander auskommen. Aber so richtig haben das einige Menschen noch nicht begriffen.
Ganz liebe grüße
Rosi

birgit hat gesagt…

so ein bisschen traurig lässt es mich zurück
*dasgrauehaarschüttel*
*staubwegblas*
diese glaskiste steht hier auch schon lang verwaist herum...

Stephanie hat gesagt…

Danke liebe Sica!
Ich freue mich, dass es dir gefallen hat.
Mir macht es Spaß, altbekanntes mal aus anderer Sicht zu betrachten

liebe Grüße Stephanie



... da hast du schon recht liebe Grey Owl, die ewige Glückseligkeit gibt es nicht (es sei wir gehen anders, philosophisch, an die Möglichkeit heran), aber es gibt genug Frauen (und Männer) die diesem Phantom hinterher jagen.

Tja und die Sache mit dem Erlöserprinzen scheint uns hier vielleicht schon überholt, aber ich kenne da so einige...

Das Bild der Frau, ist schon irgendwie gebrochen. Da gibt es zum Beispiel eine, vor Selbstbewusstsein platzende Lena und die begeistert die Massen mit einem Text, der vor Selbstaufgabe trieft. Da sieht sich das verliebte Mädel als Satellit, der um den "Prinzen" kreist...

So ist das!
liebe Grüße Stephanie




Hallo Birgit,
… ja, da ist schon eine gewisse Tragik drin. Apropos Glaskiste, Schneewittchen werde ich mir demnächst auch einmal vornehmen...

liebe Grüße Stephanie